Werner Stahel: Zwei persönliche Aussagen zum Thema Wissenschaft und Glaube.

Unglaublich!

Ich fahre in die Stadt, bewege mich durch den Einkaufsrummel, kaufe ein Hemd, ein Buch. Ganz gewöhnlich. Irgendwann fällt mir auf, was da alles funktionieren muss, damit das Gewöhnliche möglich wird, bis ein Zug fahren kann, ein Hemd und ein Buch entstanden ist und zum Kaufen bereit liegt, und dass es eine Gemeinschaft gibt, die das alles am Laufen erhält. Es erscheint mir unglaublich!

Unglaublich? Ich weiss natürlich, auf welchen Prinzipien und Naturgesetzen die Eisenbahn beruht, wie der Handel organisiert ist, wie die Gesetze gemacht werden, die verhindern, dass jeder dem anderen den Schädel einschlägt. Ich kenne das wenigstens generell.

Ich verstehe auch die Theorien - wenigstens der Spur nach -, die zeigen, wie sich die Welt und die Menschheit aus dem Urknall und dem Zufall herleiten lassen, und finde sie spannend. Die gegenwärtige Forschung über Genetik und die darauf aufbauenden Lebensprozesse führen zu einer Art Erkenntnis, die man früher für unerreichbar hielt. Immer mehr von dem, was früher als unbegreiflich galt, wird erklärbar.

Die wissenschaftlichen Erklärungen sind unpersönlich. Sie vermitteln uns den Eindruck, dass wir nur kleine Rädchen (oder manchmal Sandkörner) in einer riesigen Maschine seien, die auch ohne uns weiterlaufen würde. - Nur kleine Rädchen? Woher kommt es, dass ICH an dieser Maschine teilnehme? Da wird es persönlich. ICH stehe ja diesen vielen Möglichkeiten gegenüber, die die wissenschaftlich erklärte Welt bietet. Und wenn ich auf einer Bergspitze an der Sonne liege, sind die Erklärungen der verschiedenen Strahlungsarten und die Umlaufbahn der Erde um die Sonne unwesentlich. Wenn ich einen Unfall habe, nützt mir die Kenntnis der Wahrscheinlichkeit eines solchen Ereignisses wenig. Ich bin betroffen.

Für mich bleibt auch das Erklärbare im Wesentlichen unglaublich. Eigentlich ist auch die Tatsache, dass so vieles sich der wissenschaftlichen Erklärung erschliesst, unbegreiflich. Wieso gibt es eine solche Welt? Wieso lässt diese zu, dass wir Naturgesetze finden können, die sie uns erklärbar machen?

Eine wichtige Strömung der heutigen Philosophie, der Konstruktivismus, betont, dass alles, was wir zu wissen glauben, auf unserer Wahrnehmung beruht und in unserem Kopf zu einem Bild zusammenkonstruiert wird, das wir dann Wirklichkeit nennen. Wir machen uns ein Modell dessen, was uns begegnet. Eine objektive Wahrheit gibt es nicht, wir können nur feststellen, dass wir in vielem sehr ähnliche Modelle in unseren Köpfen herumtragen - feststellen, so weit wir uns überhaupt verstehen können. Die Modelle sind natürlich nicht völlig beliebig, denn abstruse Vorstellungen werden sich im Alltag nicht bewähren, und Wunschträume zur Wirklichkeit zu erklären, kann tödlich sein.

Die Bilder, die wir uns machen, sind zwar nicht wirklich falsifizierbar. Sie sind aber auch nicht einfach Privatsache, denn sie haben Auswirkungen auf unser Tun.

Zu meiner "Konstruktion der Wirklichkeit" gehört das Bild einer "objektiven" Wahrheit. Wir können diese zwar nie sicher und schon gar nicht vollständig erfassen, aber es gibt sie unabhängig von unserem Erkennen, und es lohnt sich, sie erforschen zu wollen. Das Erkennen ist einerseits das Ziel der Wissenschaft, die wir als Gesellschaft gemeinsam betreiben. Andererseits ist es aber auch die Wahrheit, die mich als Mensch unmittelbar angeht. Das Bild für diese Wahrheit, das sich für mich am besten bewährt hat, ist das von einer Person, die mir begegnet. Diese Wahrheit ist also keine Sammlung von Sätzen, die richtig oder im logischen Sinne wahr sind, sondern jemand, der mich anspricht und zu dem ich in einer Beziehung lebe.

Es ist fast unglaublich, dass zu dieser Person Wahrheit eine Beziehung möglich ist. Ich bin davon überzeugt, und ich will das in der Art auszudrücken, wie es viele vor mir getan haben und mit mir tun, denn dadurch erschliesst sich mir die Erkenntnis, die die Menschheit gesammelt hat. Ich nenne diese Person also Gott, und ich glaube (an) das fast Unglaubliche. Das tue ich unter anderem, weil es sich bewährt hat und die Welt, die mir begegnet, dadurch in einem Sinne "erklärbar" wird, der mich als Mensch bewegt. Das Unglaubliche ist der Grund des Glaubens.

Die Wahrheit begegnet mir

Ich bin an einer Hochschule tätig, an der die "exakten" und technischen Wissenschaften im Zentrum stehen. Diese liefern für die Dinge und Abläufe, die wir in unserer Welt wahrnehmen können, erstaunlich detaillierte Erklärungen und dringen dabei immer weiter in Bereiche vor, die noch vor kurzem kaum jemand für erklärbar gehalten hätte. Für einen Gott, der der Grund des Unerklärlichen sein soll, wird der Raum eng und enger.

Die Wissenschaft orientiert sich an dem, was man "objektiv" feststellen kann. (Die moderne Philosophie hat die Idee der Objektivität zwar als eigentlich unhaltbar entlarvt; dennoch beeinflussen die wissenschaftlichen Erkenntnisse unser Leben in grossem Umfang.) Aber da bleibt das, was mich direkt betrifft, das mich auch dann schüttelt, umwirft und aufstellt, wenn man das, was es auslöst, wissenschaftlich erklären kann. Gefühle sind mehr als Biochemie, und Schicksalsschläge mehr als die Wahrscheinlichkeiten seltener zufälliger Ereignisse. Die Wahrheit, die mich direkt angeht, ist persönlich. Wenn ich diese Art Wahrheit finden will, dann nützen mir die "objektiven" Erklärungen wenig. Wenn ich die Möglichkeiten und die Schönheiten, die diese Welt bietet, auf mich wirken lasse, dann empfinde ich sie als unglaublich reichhaltig. In diesem Staunen erkenne ich Gott.

Ich erfahre Gott aber nicht nur als lebendigen Bezug zu dem, was mir begegnet. Es gibt ja auch genug, was mich nicht bereichert, sondern eingrenzt und herunter drückt. Das hat viel damit zu tun, wie ich die Möglichkeiten ausnütze und was wir alle aus ihnen machen. Ich habe Gott vor allem nötig, um zu merken, was ich tun soll, damit die guten Möglichkeiten wachsen können.

Viele siedeln diese persönliche Wahrheit in sich selbst an. Sie suchen Gott im Innersten. Als Richtschnur für ihr Handeln genügt ihnen das Gewissen, sie brauchen niemanden, der ihnen drein redet, im Gegenteil kann es Respektlosigkeit vor der Heiligkeit des Gottes in mir bedeuten, wenn sich da jemand einmischt, und eine göttliche Autorität von aussen wird zu einer unannehmbaren Zumutung.

Innen und Aussen sind Bilder, die wir uns konstruieren. Kommt es auf die Worte an, die wir brauchen? Schliesslich zählt, was wir tun! (Vielleicht hat allerdings auch das, was wir denken und fühlen, konkretere Auswirkungen auf die Wirklichkeit, als wir das üblicherweise annehmen.)

Nun, ich finde das Bild des "Gottes in uns" einseitig, ich brauche den Gott, der mir entgegentreten kann, gerade auch dann, wenn ich denke, dass ich den Seelenfrieden gefunden habe. Auch Du sollst mir da drein reden, und wir können gemeinsam Gottes Idee für unser Leben erforschen. Wir können und sollen die Bilder austauschen, die wir uns von ihm machen. Wir sind sogar darauf angewiesen, dass wir miteinander über die Grundlage unseres Lebens und Handelns reden. Im naturwissenschaftlichen Bereich ist unser Wissen weit entwickelt, und niemand würde es zur Privatsache erklären, die Naturgesetze zu studieren, denn dann kämen wir nicht weit. So ist auch über die geistigen Grundlagen des Lebens Unterricht angezeigt. Wenn wir diesen Unterricht, die Forschung und das Gespräch darüber vernachlässigen, hat das grosse Folgen für uns selbst, für unsere Gesellschaft und für die Menschheit.

Allerdings unterscheidet sich dieses Suchen von der naturwissenschaftlichen Forschung. Da es nicht in erster Linie um Dinge geht, die man durch einfache Sinneswahrnehmung überprüfen kann (was allerdings auch in der modernen Naturwissenschaft nicht mehr möglich ist), und da diese Wahrheit unser persönliches Leben betrifft, ist klar, dass ein Konsens schwierig ist. Diese Wahrheit ist keine Sammlung von Sätzen, die richtig sind, sondern sie begegnet uns wie eine Person, zu der wir eine Beziehung haben. Diese Person, Gott, ist gemäss der Erfahrung von denen, die sich intensiv mir ihr befassten, ja immer wieder anders, als wir das formulieren. Wir können ihn nicht in unsere Verfügungsgewalt bringen. Er begegnet uns persönlich. Die Bibel berichtet über solche Erfahrungen, besonders mit Jesus Christus, der den Menschen seiner Umgebung und uns diese Wahrheit so direkt erlebbar macht, dass er selbst die Wahrheit genannt wird.

Ein Konsens über unsere Erfahrungen ist nicht nötig. Es bleibt uns eine lebendige Beziehung zum Unerfassbaren! Ich wünsche Dir und mir einen spannenden Weg zur und mit der unbegrenzten Wahrheit Gott.